Wenn die Buchführung nicht ordnungsgemäß ist, darf das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen ganz oder teilweise schätzen. Dabei muss nicht die komplette Buchführung mangelhaft sein – es wird auch über fehlende Rechnungsnummern oder unzureichende Kassenaufzeichnungen diskutiert. Bei steuerlichen Betriebsprüfungen kommt es in solchen Fällen regelmäßig zu Meinungsverschiedenheiten über Höhe und Angemessenheit von Hinzu- oder Vollschätzungen.
Sowohl für Hinzu- als auch für Vollschätzungen verwenden die Finanzämter regelmäßig die amtliche Richtsatzsammlung der Finanzverwaltung. Diese bundeseinheitlichen Richtsätze sind ein Hilfsmittel, um Umsätze und Gewinne der Unternehmen branchenspezifisch zu verproben und gegebenenfalls bei Fehlen anderer geeigneter Unterlagen zu schätzen. Bisher hat die Rechtsprechung die Richtsätze der Finanzverwaltung als Vergleichsmaßstab allgemein anerkannt. In einem aktuellen Urteil aus Dezember 2022 äußerte der Bundesfinanzhof (BFH) erstmals Zweifel an der allgemeinen Zulässigkeit dieser Schätzmethode und forderte das Bundesfinanzministerium (BMF) auf, einem Revisionsverfahren beizutreten, um zu der Frage Stellung zu nehmen, ob überhaupt, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, eine Schätzung auf der Grundlage der amtlichen Richtsatzsammlung des BMF zulässig ist. Der BFH möchte klären,
- welche Einzeldaten mit welchem Gewicht in die Ermittlung der Richtsätze der jeweiligen Gewerbeklasse einfließen, wie die Repräsentativität der Daten sichergestellt wird und ob es Einzeldaten gibt, die von vornherein ausgeschlossen werden;
- ob die zum Teil erheblichen regionalen Unterschiede bei den fixen Betriebskosten, insbesondere bei Raum- und Personalkosten, dem Ansatz bundeseinheitlicher Richtsätze entgegenstehen;
- weshalb die Ergebnisse von Außenprüfungen bei sogenannten Verlustbetrieben unberücksichtigt bleiben, obwohl auch diese grundsätzlich einen positiven Rohgewinnaufschlagsatz ausweisen;
- ob erfolgreiche Rechtsbehelfe gegen die auf eine Außenprüfung ergangenen Steuerbescheide Eingang in die Richtsatzsammlung finden.
Zudem stellt der BFH die Frage, wie sichergestellt wird, dass die Ergebnisse der Schätzungen auf der Grundlage der amtlichen Richtsatzsammlung nachvollziehbar und überprüfbar sind.
Sollte der BFH die amtlichen Richtsätze als unzulässig einstufen, würde dies die bisherige Prüfungspraxis der Finanzverwaltung in vielen Fällen aushebeln. Land und Wirtschaft wird über die Rechtsentwicklung weiter berichten.
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